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Meisterin

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Sonntag, 5. August 2007, 13:28

Schonungslose Abrechnung aus ihrer ganz persönlichen Sicht.Natascha Kampusch Teil 2

Brigitta Sirny und ihr Buch über das Drama ihrer Tochter.
Schonungslose Abrechnung aus ihrer ganz persönlichen Sicht.
Die Mutter von Natascha Kampusch geht sehr weit.
Die Frage, wie weit eine Mutter gehen darf, wird noch für Zündstoff sorgen.
Teil 2 des Vorabdrucks.

Sirny hat Natascha Kampusch ihr Buch gezeigt. Natascha Kampusch hat der Veröffentlichung zugestimmt. Es ist erstaunlich, dass sie das erträgt. Szenen aus ihrem Alltag, in dem offene Wunden bloßgelegt werden. Brigitta Sirny schildert, wie nah und fremd zugleich ihr die eigene Tochter ist.


Ich sehe eine 18-Jährige im Wohnzimmer stehen, wo früher eine Zehnjährige herumgetollt ist. Die zwei Gesichter meiner Tochter legen sich übereinander. Das Kind, die junge Frau. So vertraut, so fremd. Wir sind auseinander gerissen worden; vor der Pubertät und dem Trubel, den die Hormone dabei veranstalten. Als sie die erste Regel bekam, hatte sie einen Stock höher einen Verbrecher sitzen, keine Mutter. In der Zeit, in der andere ihren ersten Freund küssten, hat sie sich selber stricken beigebracht, um nicht durchzudrehen. Das alles fehlt ihr. Das alles fehlt mir. Wir brauchen jetzt uns.

"Übrigens, Mama", sagt Natascha, "hab ich dir das schon gezeigt?" Sie sucht etwas in ihrer Handtasche. "Da, schau." Sie legt ein paar Fotos hin. Sie ist nicht sehr freigiebig mit persönlichen Dingen. Etwas von sich preiszugeben ist immer nur ihre Entscheidung. Jetzt ist so eine Gelegenheit. Ich freue mich, greife zu den Bildern. Man sieht einen Sarg. "Sie haben ihn nicht mehr aufgemacht", sagt Natascha. "Ich hab mich halt so von ihm verabschiedet." Ich starre auf das Bild. Den Sarg von Wolfgang Priklopil.

Wir sprechen den Namen nie aus. Wir holen die verlorenen Jahre nie absichtlich zurück. Und doch. Jeder Handgriff kann die Geister heraufbeschwören. Wir bewegen uns zwischen alter Gewohnheit und neuem Leben. Im Haushalt prallt beides am öftesten aufeinander. Wir haben unterschiedliche Auffassungen.

"Wir brauchen Zitronen", sagt Natascha. "Wir haben Zitronen", sage ich. "Wir brauchen mehr Zitronen", sagt sie. "Wozu?" "Zum Putzen." Natascha nimmt alle Zitronen aus dem Korb, schneidet sie in zwei Hälften und beginnt in der Küche alles mit den Obstschalen zu schrubben. "Die chemischen Mittel", sagt sie, "sind ungesund."

"Ich verstehe." Wir sind auf verschiedene Dinge allergisch. "Geh weg da, mach keine Brösel", sagt Natascha. "Ist doch nicht so schlimm", sage ich, "ich wische sie nachher weg." "So was macht man nicht", sagt sie. "Hier macht man das schon so", sage ich.

Nataschas erste eigene Wohnung. Groß, hell, freundlich, sauteuer. Die Anwälte haben ihr geholfen, sich auf dem Immobilienmarkt zurechtzufinden und sich nicht lumpen lassen. Ich höre, was die Miete kostet, und schlucke.

Eine große Wohnung, denke ich, als ich sie zum ersten Mal besuche. Natascha führt mich durch die Zimmer und zeigt mir alles. Edler Parkettboden, frisch ausgemalt, alles tipptopp. Ich beobachte sie, wie sie vor mir hergeht. Ihre Schritte sind fast ein bisschen zögerlich. Sie ist es nicht gewöhnt, sich in derart viel Raum zu bewegen. Das überzeugt mich. Größe, Weite, Höhe, das ist der wahre Luxus für Natascha. Ich bin glücklich.

Ich sortiere die Wäsche. Ich habe es lange hinausgezögert. Es sind Nataschas Sachen aus dem Verlies. Sie hat sie mir in die Hand gedrückt, nachdem die Kripo sie wieder freigegeben hatte.

Mechanisch werfe ich die Stücke auf die kleinen Haufen vor der Waschmaschine. Eins auf den hellen Berg, eins auf den dunklen. Mehr schaffe ich nicht. Ich gehe ins Wohnzimmer und zünde mir eine Zigarette an.

Ich mache weiter. Das Bad riecht nach Moder. Warum will sie das Zeug aufheben?, frage ich mich. Wegschmeißen, verbrennen, das wäre das Erste gewesen, was ich damit gemacht hätte. Sie verbindet irgendwelche Gefühle damit, denke ich. Ich weiß nicht, welche.

Es dauert Stunden, bis ich den ersten Berg in der Waschmaschine habe. Ich höre das Geräusch der Trommel. Ich fürchte mich davor, dass es aufhört. Die Sachen werden sauber sein, aber es wird ihnen immer was Schmutziges anhaften. Ich setze mich auf die Couch und rauche.

Mir tut die Mutter so leid, hat Natascha unlängst gesagt. Sie würde so gern mit ihr reden. Über die Polizei hat sie versucht, den Kontakt aufzunehmen. Die ältere Dame hat abgelehnt.

Was muss in dieser Frau vorgehen, denke ich. Meine Tochter und ich haben uns wieder gefunden. Sie hat alles verloren. Den Sohn, den Glauben. Ich bin die Mutter der Heldin, sie ist die Mutter des Monsters. Trotzdem, er war ihr Kind.

Der Aschenbecher vor mir füllt sich. Aus dem Bad kommt ein lauteres Geräusch, der Schleudergang. Ich hole die Sachen aus der Maschine, es riecht noch immer nach Moder. Ich lege ein Stück nach dem anderen in den Trockner. Relikte der Einsamkeit, denke ich. Vielleicht will Natascha sie deshalb aufheben. Als eine Brücke zwischen gestern und heute.

Natascha hatte schon immer eine sehr direkte Art, sich auszudrücken. Jetzt redet sie beinahe im Befehlston. Es ist aber schon besser geworden. Sie zieht Vergleiche und Parallelen, die mich erschrecken. "Das hat der Verbrecher auch immer zu mir gesagt."

Wir sitzen im Auto. Ich weiß gar nicht mehr, wovon ich gerade geredet habe. Ich steige auf die Bremse, fahre rechts an den Gehsteig. "Schau mich an", sage ich und nehme sie an den Schultern. "Ich bin deine Mama." Natascha nickt. Ich habe das Gefühl, es ihr noch oft sagen zu müssen. Und mir auch. Sie vergleicht mich immer wieder mit dem Verbrecher, und ich komme mir so schlecht vor dabei.

Gefahr lauert in jedem Wort, jeder Silbe. Manchmal rutscht mir trotzdem was raus, da kann man aufpassen, wie man will. "Da fährt die Eisen-", sage ich. Der Rest bleibt mir im Hals stecken. Ich Volltrottel, denke ich. Da fährt die Eisenbahn drüber. Wie habe ich das nur sagen können? Da hätte ich gleich sagen können, da fährt die Eisenbahn über den Verbrecher drüber. Kurz hoffe ich, dass sie es überhört hat. Aber sie überhört nichts. Ich schaue zu ihr hinüber und sehe einen bösen Blick. Niemand hat auch nur eine Ahnung, was solche Winzigkeiten in ihr lostreten. Niemand hat auch nur eine Ahnung, wie viele Hindernisse Natascha Tag für Tag überwindet
Flehen um ein anderes, besseres Sein


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ICH
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