"Verzweifelte Jahre". ..Natascha Kampusch 1.Teil
Auszüge aus Brigitta Sirnys Kampusch-Buch
Brigitta Sirny hat das Drama und das Happy End ihres Lebens zu einem Buch gemacht: "Verzweifelte Jahre".
Die Mutter von Natascha Kampusch erzählt, wie sie selber fast zugrunde ging, und wie sie Natascha nach der Rettung beinahe noch einmal verloren hat. Im ersten Teil des Buchabdruckes: der magische Moment des Wiedersehens.
Die Flucht von Natascha Kampusch
Strasshof im langen Schatten Priklopils
Packend wie ein Krimi.
Der Augenblick der wunderbaren Nachricht und der erste Weg zu Natascha.
Die verzweifelten Jahre, die im Zeitraffer den Kopf durchfluten.
Die Angst und die rasende Ungeduld vor dem Wiedersehen. Und dann stehen Mutter und Tochter einander gegenüber.
Natascha ist dünn, sehr blass, aber ich erkenne sie sofort. Sie hat keine Verletzung, sie ist nicht entstellt. Sie hat ein Trägerkleid an, eine weiße Jacke und Ballerinas. Ich gehe auf sie zu. Wir fallen uns in die Arme. Wir halten uns lange. Ich spüre, wie sie zittert.
Sie löst sich von mir. Mit einer Hand nimmt sie mich an der Weste, zieht sie zur Seite, mustert mich und sagt: "Du bist ja noch immer so schlank und so sexy. Ich habe geglaubt, da kommt eine alte Schrumpelige." "Na, hallo", sage ich. Plötzlich fallen mir die anderen Menschen auf. Zehn, fünfzehn, zwanzig Leute müssen das sein, allein in diesem Zimmer. Alle beobachten uns. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
"Ich bin nicht sexuell missbraucht worden", antwortet Natascha auf die Frage, die ich nicht gestellt habe. Es muss Gedankenübertragung sein. Und Gedankenübertragung ist alles, was sie uns lassen. Wir stehen nur einen Meter voneinander entfernt, und schon trennt man uns. Niemand verlässt den Raum, um uns wenigstens ein paar private Minuten zu schenken. Alle sind wichtig. Jeder tut, als hätte er sie gefunden. Im schönsten Augenblick unseres Lebens sind wir nur Teil einer Amtshandlung.
Der Koch (Anmerkung der Redaktion: Nataschas Vater) kommt auf uns zu. Ich gebe ihm nicht die Hand. Ein älterer Beamter nimmt mich beiseite. Er deutet zum Fenster, ich folge ihm. "Ich muss Ihnen was sagen, Frau Sirny." Er spricht leise, Natascha soll uns nicht hören.
"Der Täter ist noch auf freiem Fuß", erklärt er. "Wir wissen, wer es ist, wir wissen aber nicht, wo er ist. Wir müssen Natascha abschirmen. Wenn Sie einverstanden sind, schlage ich vor, wir nehmen sie in Schutzgewahrsam." "Was bedeutet das?" Die Angst flackert wieder auf. "Das bedeutet, dass Natascha die Nacht woanders verbringt, eine Polizistin wird bei ihr sein. An einem sicheren Ort, den keiner kennt."
Ich will Natascha bei mir haben, aber ich kann sie nicht schützen. Irgendwo da draußen schleicht der Irre herum, der sie wieder in seine Gewalt bringen will, vielleicht bewaffnet. Ich habe keine Ahnung, wie er aussieht, was soll ich gegen den ausrichten? Ich stimme zu. Ein Kriminalpsychologe stellt sich zu uns und nickt. "Man muss behutsam mit ihr umgehen", sagt er. Da braucht man eine Polizistin dazu, schießt es mir durch den Kopf, ich bin ja nicht behutsam, ich bin nur die Mutter.
Ich schaue zu Natascha hinüber. Sie redet ruhig mit einem Beamten, sie zittert immer noch. Nach außen wirkt sie gefasst, aber ich weiß, wie es in ihr zugeht. Sie ist wie ich, für die anderen die Kühle, und dann brechen wir zusammen, wenn wir allein sind. Sie will sich keine Blöße geben vor den vielen Leuten. Sie ist noch etwas bleicher als vorher. Und es ist keine Blässe, die gerade von einer Kreislaufschwäche kommt. Es ist so ein Kalkweiß, das nur über lange Zeit ohne Sonne entsteht.
"Was soll das?", fährt mich einer der Kriminalbeamten an, als wäre ich ein Paparazzo. "Geben S das sofort her." Er will mir das Telefon abnehmen. "Moment einmal", sage ich, "ich will meine Tochter fotografieren." "Nix wird fotografiert", schreit er mich an, "das ist verboten." "Hören Sie, das ist mein Kind. Und meine andere Tochter, die ist mit den Enkeln am Bauernhof, die will auch sehen, wie ihre Schwester ausschaut." "Sie dürfen das trotzdem nicht", sagt der Polizist. Zumindest lässt er mir das Handy. Die Männer, die mich aus Wienerbruck abgeholt haben, kommen dazwischen.
"Wir müssen langsam, Frau Sirny. Wir haben noch eine ziemliche Fahrt vor uns." "Ja, und?", sage ich. "Dann fahren wir halt später, ich lass doch meine Tochter nicht allein." "Das haben wir ja schon geklärt", mischt sich der ältere Beamte von vorhin ein. "Sie haben dem Schutzgewahrsam für Natascha zugestimmt." "Schon, aber jetzt ist sie noch da. Wir haben gerade einmal ein paar Worte reden können bei dem Trubel." "Okay", sagt er und schaut auf die Uhr. "Fünf Minuten noch, es ist fast neun." "So, Frau Sirny." Die fünf Minuten sind vorbei. "Ja, ja", sage ich und gehe hinüber ins Nebenzimmer zu Natascha.
Sie spricht mit der jungen Polizistin, die zu ihrem Schutz abgestellt ist. Sie hat von ihr eine Jacke und eine Uhr bekommen, die beiden scheinen sich zu verstehen. Natascha hat aufgehört zu zittern. "Aber jetzt", sagt der Beamte, "das Auto wartet, bitte Frau Sirny." Ich verabschiede mich von Natascha. "Bis morgen." "Ja. Bis morgen." "Bis morgen." "Sie ist in guten Händen", sagt der Beamte und zieht mich aus dem Zimmer. Ich drehe mich noch dreimal um. Ein Bukett von Menschen hat sich um Natascha geschlossen.
Meine Tochter Claudia geht ein Stück mit mir. "Mach dir keine Sorgen, die wissen schon, was sie tun." Ich bringe kein Wort heraus. "Morgen kommt die Natascha zum Verhör", sagt Claudia. "Ich bringe ihr ordentliches Gewand, sie hat ja nicht einmal Unterwäsche an. Du fahr zur Sabina und den Kindern, ich bin sicher morgen früher da als du, ich mach das schon."
Wie im Taumel steige ich in den Wagen. Wie auf Wolken schwebe ich dahin. Wie im Traum lasse ich die vergangenen Stunden noch einmal ablaufen. Natascha lebt. Mein Kind ist wieder da. Ich lache, ich weine, ich lebe.
Im zweiten Teil: Manchmal steht Priklopil zwischen Mutter und Tochter.
Flehen um ein anderes, besseres Sein
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ICH