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1. Das prophetische Werk des Nostradamus
In der Mitte des 16. Jahrhunderts verfasste Nostradamus Prophezeiungen, die die Zukunft Frankreichs, Europas und der Menschheit ab 1555 bis 2234 betreffen. Diese Prophezeiungen bestehen aus zehn Bänden und aus zwei Vorworten. Da jeder Band aus einhundert vierzeiligen, gereimten Versen besteht, wird er als "Centurie" (Hundertschaft) bezeichnet. Eine Ausnahme macht der siebte Band, der lediglich aus 48 Versen besteht. Mögliche Gründe für diese unvollständige Centurie sind, (a) dass die 52 fehlenden Vierzeiler verlorengegangen sind oder (b) sie wurden aus irgendwelchen der Nostradamus-Forschung noch unbekannten Gründen nicht veröffentlicht. Die zwei erwähnten Vorworte sind zwei Briefe, die sich an Nostradamus' Sohn Cäsar (verfasst 1555) und den frz. König Heinrich II. (verfasst 1557-1558 ) richten. Nostradamus' Brief an Cäsar befindet sich vor der ersten Centurie und gilt als Vorwort zu dem Gesamtwerk. Der Brief an den frz. König befindet sich zwischen der siebten und achten Centurie. Er leitet die letzten drei Centurien ein.
Nostradamus' Prophezeiungen sind in Altfranzösisch geschrieben, in die auch einzelne Wörter aus dem Lateinischen und Griechischen sowie lateinische und griechische Endungen eingefügt wurden. Grammatik und Satzbau ähneln denen des Lateins. Um die Umstände zukünftiger Ereignisse zu beschreiben, benutze Nostradamus Elemente aus der griechischen und römischen Mythologie, der Bibel und der Geschichte vor 1555. Bestimmte zukünftige Ereignisse codierte er auch durch Methoden der sog. "Langue Vert" (frz. Grüne Sprache), die einst von Alchimisten in ihren Werken angewandt wurde. Nostradamus-Forscher David Ovason schreibt:"Grundsätzlich ist die Grüne Sprache eine linguistische Methode, Wörtern und Sätzen gemäß einem System von Geheimregeln eine verborgene Bedeutung zuzuweisen." (*) Bereits die Bezeichnung als solche verweist deutlich auf das Wesen dieser Sprache, denn tatsächlich ist "Langue Vert" nicht die Grüne Sprache, sondern das Gegenstück zur Langue Ouvert(**), die Verborgene oder Verschlüsselte Sprache. Um Nostradamus' Anwendung der Methoden dieser Geheimsprache aufzuzeigen, sei auf das Wort "vapin" in Vers V.20 verwiesen. Dieses Wort existiert in keiner offenen Sprache, es scheint sich um ein "Hybrid", eine Zusammensetzung aus "vapeur" (frz. Dampf) und dem Namen "Papin" zu handeln. Im Jahr 1690 erfand der französische Wissenschaftler Denis Papin die erste Dampfmaschine. Zu den Methoden der Langue Vert gehören auch Anagramme, Anastrophen, Aphäresen, Apokopen, Assoziationen, Epenthesen, Homonyme, Hypallagen, Hyphäresen, Metathesen, Metonyme, Paragogen, Protothesen, Rebuse, Synekdochen sowie Synkopen. Auf die Bedeutung mehrerer dieser Codierungsmethoden werde ich später näher eingehen.
Nostradamus' Zeitangaben zu den zukünftigen Ereignissen sind meistens astrologisch codiert. Die jeweiligen astrologischen Konstellationen wurden zusätzlich codiert, um sie vor gewöhnlichen Astrologen zu verbergen. Um bestimmte vorausliegende Epochen zeitlich darzustellen, benutze Nostradamus die von dem Gelehrten Trithemius 1522 veröffentlichte Sekundadeis, ein okkultes Datierungssystem, mit dessen Hilfe wir jene prophetischen Verse zeitlich richtig einordnen können, in denen dieses System vom Seher angewendet wird.
Um die prophetischen Texte des Nostradamus zu verstehen, braucht man also Kenntnisse z.B. in der Langue Vert, in der Alchimie, Geheimastrologie, Sekundadeis, Mythologie und in Geschichte.
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*Ovason, David: Der Nostradamus-Code. München (Heyne) 1999
**Offene Sprache; die Sprache des gewöhnlichen Menschen
2. Sind Nostradamus' Prophezeiungen beliebig interpretierbar?
Nostradamus-Gegner behaupten, dass die prophetischen Vierzeiler des Nostradamus beliebig interpretierbar seien und auf verschiedene Ereignisse in der Geschichte Frankreichs, Europas und der Menschheit seit 1555 bezogen werden könnten. Sie verweisen auf die unterschiedlichen Interpretationen bestimmter Nostradamus-Verse durch verschiedene Nostradamus-Autoren.
So z.B. wird Vierzeiler I.4 von den einen Autoren auf die napoleonische Zeit bezogen und von anderen auf die Zeit des "Chiren", eines frz. Königs, der Nostradamus zufolge 1999 geboren worden sein soll und in Zukunft neuer König von Frankreich werden soll (s. X.72). Dem unkritischen Leser mag dieses Argument einleuchtend erscheinen, doch richtig ist es nicht, weil die Nostradamus-Gegner nicht auf die tatsächlichen Ursachen der verschiedenen Interpretationen verweisen!
Meine Untersuchungen belegen, dass die unterschiedlichen Interpretationen eines und desselben Verses ihre Ursache nicht darin haben, dass Nostradamus beliebig interpretierbar wäre, sondern zunächst darin, dass verschiedene Interpreten die nostradamischen Texte nicht richtig übersetzen, weil sie ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen in ihre "Übersetzung" der frz. Verse einfließen lassen und so die Prophezeiungen des Nostradamus zum Teil gänzlich verfälschen
Zwei Beispiele, die das belegen:
Die ersten beiden Zeilen des Vierzeilers IX.65 "Dedans le coing Luna rendre/ Ou sera prins et mis en terre estrange" übersetzt Nostradamus-Autor Kurt Allgeier in seinem Buch "Die Prophezeiungen des Nostradamus", München (Heyne) 2. überarb. Aufl. 1999, S. 484 so: "Er begibt sich unter den Schutz des Halbmpndes, wo er gefangengenommen und in ein fremdes Land gebracht wird". Eine völlig andere "Übersetzung" dieses Verses bietet er seinen in seinem Buch "Prophezeiungen für das dritte Jahrtausend", Rastatt (Moewig) 1999, S. 152 an: "Wenn der Mond das Licht zurückgeben wird, wo werden dann Geben und Nehmen auf der fremdartigen Erde geblieben sein?" In der ersten erfundenen Prophezeiung sieht Kurt Allgeier ein Ereignis im Dritten Weltkrieg, in der zweiten eine kosmische Katastrophe. Ein und derselbe Text wurde vom Autor zwei Mal so entstellt, dass es den Eindruck erwecken könnte, dass Nostradamus' Prophezeiungen eben doch beliebig interpretierbar wären. Doch das ist nicht der Fall, denn die beiden Zeilen wurden zwei Mal vom selben Autor falsch übersetzt. So z.B. erwähnt der Originalvers keinen "Halbmond" ("demi-lune"/ "croissant" ), sondern den "Mond" ("Luna" ). Auch das Wort "Schutz" ("protection"/"garde"/"tutelle" ) wird von Nostradamus nicht erwähnt. Die korrekte Übersetzung dieses Verses lautet: "Zur Ecke des Mondes wird es hingebracht/ Von wo es genommen und ins fremde Land gebracht wird." Die Tatsache, dass dieser Vers eindeutig von der Raumfahrt spricht, speziell von einer Mondlandung, beweist, dass Nostradamus nicht beliebig interpretierbar ist.
Zweites Beispiel:
Die ersten beiden Zeilen von Vers X.70 "L'oeil par obiect sera telle excroissance/ Tant et ardente que tombera la neige" übersetzt Kurt Allgeier so: "Durch das Objekt wird sich die Sonne so sehr vergrößern, und sie wird so glühend sein, dass Schnee fällt" (*). Unabhängig von der Tatsache, dass Nostradamus in dem Text von keiner Sonne ("sol"/"soleil" ) spricht, lautet die korrekte Übersetzung so: "Das Auge wird durch das Objekt solche Vergrößerung (sehen), dermaßen glühend, dass Schnee fallen wird." Dass Nostradamus in diesem Vers von einem Teleskop spricht, das 1608 von Jan Lipperhey erfunden wurde, scheint Kurt Allgeier nicht zu interessieren, vermutlich wollte er unbedingt eine Supernova prophezeit sehen.
Ich glaube, dass ich an diesen zwei Beispielen belegen onnte, dass das korrekte Verständnis der Prophezeiungen hauptsächlich daran scheitert, dass sie von verschiedenen Übersetzern falsch übersetzt werden.
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*Allgeier, Kurt: Die Prophezeiungen des Nostradamus. München (Heyne), 2. überarb. Aufl. 1999, S.538 )